"Ich hatte eine ganz andere Einstellung zum Studium als ein 19-jähriger Abiturient"

Nikolai Kliewer faszinierte schon während seiner Ausbildung zum Physiotherapeuten die Zusammenarbeit mit Ärzten. Gefördert durch das Aufstiegsstipendium schaffte er es, auch ohne Abitur ein Medizinstudium erfolgreich in der Regelstudienzeit abzuschließen. Heute befindet er sich in der Ausbildung zum Facharzt.


Herr Kliewer, nach der Mittleren Reife haben Sie eine Ausbildung zum Physiotherapeuten absolviert. Wie kamen Sie auf den Beruf?

Ich hatte ein Schülerpraktikum in einer physiotherapeutischen Praxis gemacht. Das hatte mich von Anfang an gepackt. Mich schreckte aber ab, dass die Ausbildung zum Physiotherapeuten in den meisten Fällen Schulgeld kostete. Ich absolvierte stattdessen eine Ausbildung zum Finanzwirt beim Finanzamt in Altenkirchen im Westerwald und wurde auch Finanzbeamter. Einen neuen Anstoß erhielt ich dann durch zwei Auslandseinsätze in meinem Geburtsland Kasachstan, das ich dadurch kennenlernte. Die Ausbildung zum Physiotherapeuten begann ich erst anschließend.

Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen?

Fünf Jahre alt. Wir waren Spätaussiedler. Unsere Eltern hatten in Kasachstan, so gut sie es konnten, mit mir und meinen fünf Geschwistern Deutsch gesprochen, aber in einer sehr einfachen Sprache. Sie hatten keine großen Ambitionen, was unsere Schullaufbahn anging. Nachdem ich einmal sitzen geblieben war, waren sie froh, dass ich meinen Realschulabschluss erfolgreich absolvierte und anschließend einen guten Ausbildungsplatz bekam.

Für welche Auslandseinsätze waren Sie in Kasachstan?

Ich hatte mich zu einem elfmonatigen Dienst im Ausland gemeldet, der dem Zivildienst gleichgestellt war. Den Dienst leistete ich bei einer kirchlichen Organisation mit einer Partnerkirche in Kasachstan, die dort ein Kinderheim betreute. Danach kehrte ich für ein gutes Jahr nach Deutschland und ins Finanzamt zurück. Anschließend ging ich über ein freiwilliges Jahr dann noch einmal in das Kinderheim.

Eine direkte Verbindung zum Beruf des Physiotherapeuten hatten die Einsätze aber nicht?

Das nicht, aber ich hatte das Gefühl, dass ich mit meiner Ausbildung als Finanzwirt nichts anfangen könnte, wenn ich noch einmal ins Ausland wollte. In dem Kinderheim begleitete ich häufig eine Kinderärztin, die die Kinder betreute. Mich reizte, einen Beruf zu haben, in dem ich Menschen selbstständig helfen konnte. Dadurch kam ich wieder auf meinen ursprünglichen Berufswunsch zurück. Ich bewarb mich noch aus Kasachstan an der DAA-Schule für Physiotherapie in Siegen um eine Ausbildungsstelle zum Physiotherapeuten und bekam sie auch.

Das heißt, Sie haben die Beamtenlaufbahn aufgegeben?

Das ist richtig. Ich hatte zwischenzeitlich herausgefunden, dass ich BAföG-berechtigt war und so das Schulgeld bezahlen konnte. Meine Frau, die berufstätig war, trug den Entschluss mit. Die Ausbildung zum Physiotherapeuten schloss ich mit der Note 1,3 ab und arbeitete anschließend zwei Jahre in Vollzeit in dem Beruf.

Während dieser Zeit wurden Sie auch durch das Weiterbildungsstipendium gefördert.

Nach der Ausbildung händigte die Schulleitung den Auszubildenden, die einen besonders guten Abschluss hatten, einen Flyer zum Weiterbildungsstipendium aus. Da mein Dienst im Ausland angerechnet wurde, war ich gerade noch innerhalb der Altersgrenze. Ich bewarb mich bei der SBB und erhielt die Zusage. Während der Ausbildung hatte mich die Zusammenarbeit mit den Ärzten besonders begeistert. Deshalb suchte ich mir gezielt Weiterbildungen aus, die mir sowohl im physiotherapeutischen, aber auch im ärztlichen Bereich halfen, Patienten noch gezielter und umfänglicher behandeln zu können. Das waren zum Beispiel Fortbildungen in manueller Medizin oder Chiropraktik.

Liebäugelten Sie da bereits mit einem Medizinstudium?

Ich dachte schon gegen Ende der Ausbildung darüber nach, aber ich hatte ja kein Abitur. Ich rief kühn bei den medizinischen Fakultäten einiger Unis an und erkundigte mich nach den Voraussetzungen, um ohne Abitur Medizin studieren zu können. Der Tenor war, dass es sehr schwierige Auswahlverfahren gebe und ich besser das Abitur nachholen sollte. Ich überlegte sogar, während der Ausbildung gleichzeitig das Abendgymnasium zu besuchen. Davon riet mir aber meine Schulleiterin ab, weil sie befürchtete, dass ich dann eher zwei schlechte als einen richtig guten Abschluss machen würde.

Einen Medizinstudienplatz bekamen Sie dennoch.

Ich informierte mich weiter intensiv und wurde schließlich zu einem Informationsgespräch der Uni Mainz eingeladen. Das war die Hochschule, die am deutlichsten den möglichen Weg ins Medizinstudium aufzeigte. Ich musste eine Berufsausbildung und mindestens zwei Jahre Berufserfahrung nachweisen, aber weder das Abi nachholen noch andere gesonderte Prüfungen ablegen. Als ich zwei Jahre Berufserfahrung hatte, bewarb ich mich an der Uni und es klappte tatsächlich alles reibungslos. Da meine Ausbildungsnote von 1,3 wie eine Abiturnote gewertet wurde, bekam ich den Studienplatz sogar ohne Wartesemester.

Wie verlief Ihr Start in das Medizinstudium?

Fachlich waren die ersten Semester ein Kampf. Ich musste vor allem im naturwissenschaftlichen Bereich viel aufholen. Meine Schulzeit lag lange zurück und im Vergleich zu den ehemaligen Gymnasiasten hatte ich ohnehin viel geringere Vorkenntnisse. Je medizinischer es wurde, desto besser ging es dann, etwa ab dem dritten Semester. Ich merkte auch, dass ich aufgeholt hatte.

Wie war Ihnen das gelungen?

Ich nahm an Tutorien teil, die die Uni anbot. Die brachten mir sehr viel, weil sie von Studierenden geleitet wurden, die das Gleiche schon hinter sich hatten und genau wussten, worauf die Prüfer Wert legten, und wie man Defizite aufholen konnte. Außerdem war ich in einigen Lerngruppen, sowohl mit Abiturienten als auch mit Kommilitonen, die wie ich kein Abi hatten. Und es gehörte ein gewisser Ehrgeiz hinzu. Ich wusste ja, dass meine Familie das Studium mittrug. Dadurch hatte ich eine ganz andere Einstellung zum Studium als ein 19-jähriger Abiturient.

Wie erfuhren Sie vom Aufstiegsstipendium?

Auf das Aufstiegsstipendium war ich schon auf der Website der SBB gestoßen, als ich mich um das Weiterbildungsstipendium bewarb. Als es auf das Studium zuging, informierte ich mich noch einmal detailliert. Es war klar, dass es meine gesamte Situation sehr erleichtern würde, wenn ich das Stipendium bekommen würde. Ich bewarb mich und erhielt die Zusage ein paar Wochen vor Studienbeginn.

War das Stipendium die erhoffte Erleichterung?

Unbedingt, auch durch die Kinderzulagen, die wir erhielten. Meine Frau und ich hatten zwar beschlossen, dass ich das Studium auf jeden Fall angehen sollte. Aber ich weiß nicht, ob ich es ohne die Förderung wirklich geschafft hätte, vor allem nicht in der Regelstudienzeit. Die Zusage zum Stipendium hatte mir auch noch einmal einen besonderen Schub gegeben, als Zeichen, dass das Medizinstudium der richtige Weg war. Dass ich das Studium mit Familie absolvieren und es dann auch noch schuldenfrei abschließen konnte, ist für mich ein großer Luxus. Dafür bin ich dem Bundesbildungsministerium enorm dankbar.

Halfen Ihnen im Studium Ihre praktischen Erfahrungen als Physiotherapeut?

Den Vorteil merkte ich in Untersuchungskursen, in denen wir an Patienten übten, oder in den verschiedenen Praktika in der Klinik. Es fiel auch anderen Studierenden auf, wie ich Patienten ansprach oder anfasste. Für mich war es selbstverständlich, aber im Vergleich zu meinen Kommilitonen hatte ich ein ganz anderes Auftreten im Umgang mit den Patienten oder bei der Anamnese.

Wie geht es nach Abschluss des Studiums für Sie weiter?

Das Studium habe ich vor einigen Monaten mit der Note 2  abgeschlossen. Anschließend ging ich für einen Monat zu einem Hausarzt, bei dem ich auch schon ein Praktikum gemacht hatte. Inzwischen habe ich mich für drei Jahre beim Bundeswehrkrankenhaus Koblenz verpflichtet. Dort rotiere ich durch die klinischen Bereiche wie Innere Abteilung, Chirurgie und Notaufnahme. Mein Plan ist, anschließend Allgemeinmediziner in einer Praxis zu werden und mich später zum Facharzt zu qualifizieren.

Interview: Heinz Peter Krieger