„Ich sagte zuerst: Stipendium und ich – das passt doch nicht zusammen“

Viktor Hansen kam mit zwölf Jahren aus Kasachstan nach Deutschland. Nach seinem Hauptschulabschluss holte er an der Berufsschule die Mittlere Reife nach, machte eine Ausbildung zum Industrieelektroniker und bildete sich zum Industriemeister weiter. Anschließend studierte er – gefördert durch das Aufstiegsstipendium – berufsbegleitend Elektrotechnik. Im Interview erzählt er, wie er das schaffte.


Nach der Mittleren Reife haben Sie eine Ausbildung zum Elektroniker für Betriebstechnik absolviert. Wie waren Sie auf den Beruf gekommen?

In der Regionalen Schule, die ich besuchte – heute heißt die Schulform in Rheinland-Pfalz Realschule plus –, gab es im Ganztag Elektrotechnik-Kurse, die ich sehr spannend fand. Das wurde dann mein großes Hobby. Als ich nach meinem Hauptschulabschluss an der Berufsschule zunächst die Mittlere Reife nachholte, wählte ich dort auch Elektrotechnik als Schwerpunkt. Ursprünglich wollte ich mich um eine Ausbildungsstelle im Bereich Energie- und Gebäudetechnik bewerben. Ein befreundeter Schüler an der Berufsschule erzählte dann aber von seiner Ausbildung zum Industrieelektroniker. Das fand ich noch interessanter. Ich bewarb mich und hatte das Glück, eine Stelle bei einem sehr angesehenen Betrieb bei uns in Neuwied zu bekommen. Es war eine Ausbildung auf hohem Level.

Sie sind in Kasachstan geboren. Haben Sie Ihre Schulzeit schon in Deutschland verbracht?

Nein, ich kam mit zwölf Jahren mit meiner Familie nach Deutschland. Ich startete in der 6. Klasse und nahm parallel an einem Deutsch-als-Fremdsprache-Kurs teil. Ich kann mich noch gut an meine erste Schulstunde erinnern. Meine Eltern hatten mich abgegeben, ich landete im Physikunterricht und verstand gar nichts. Das war anfangs nicht einfach. Es änderte sich durch eine Klassenfahrt im selben Schuljahr. Als ich zu meinen Eltern nach Hause kam, sprach ich auf einmal Deutsch. Insgesamt liefen die ersten Jahre aber noch nicht so gut. Ich besuchte den Förderunterricht, bekam noch die Kurve und war im 9. Schuljahr auf einmal Klassenbester. Da war es aber zu spät, um an der Regionalen Schule noch die Mittlere Reife zu erlangen. Das habe ich dann an der Berufsschule nachgeholt.

Konnten Sie nach der Ausbildung in dem Betrieb bleiben?

Leider nicht, weil er sehr unter der damaligen Wirtschaftskrise litt. Zwei meiner Ausbilder mussten das Unternehmen ebenfalls verlassen, machten sich selbstständig und ich war der erste Mitarbeiter, den sie einstellten. So konnte ich den Betrieb mit aufbauen. Heute arbeiten dort 25 Beschäftigte, darunter mein Vater. Es ist ein Serviceunternehmen im Bereich Elektrotechnik, das Firmen betreut. Ich musste mich immer wieder in ganz unterschiedliche Betriebe einarbeiten, in deren Anlagen reindenken und bei Störungen oder Neueinrichtungen helfen. Dort blieb ich sechs Jahre, bis zum Beginn meines Studiums. Davor hatte ich mich zum Industriemeister Elektrotechnik weitergebildet.

Die Weiterbildung war Ihre Initiative?

Ich fand die Aufgaben meiner Ausbilder toll und arbeitete selbst sehr gerne mit jüngeren Kollegen zusammen. Diese kamen oft zu mir, wenn sie Fragen hatten. Ich wollte den Industriemeister-Lehrgang absolvieren, um später einen ähnlichen Job machen zu können.

Wo haben Sie den Lehrgang absolviert?

Bei der IHK kam damals leider kein berufsbegleitender Lehrgang zustande, weil es zu wenige Teilnehmer gab. Stattdessen meldete ich mich beim Fernkurs der SGD an, der Studiengemeinschaft Darmstadt. Mir fiel es allerdings nach einiger Zeit schwer, mich abends nach der Arbeit alleine für den Online-Kurs zu motivieren. Zwei Jahre lang ließ ich den Kurs ziemlich links liegen. Dann lernte ich meine heutige Frau kennen, die Zahnmedizin in Bonn studierte. Sie musste unheimlich viel lernen, und das motivierte mich, es selbst auch wieder anzupacken und mich abends für den Kurs hinzusetzen. Ich arbeitete die Bücher und frühere Prüfungsaufgaben durch, nur das Auswendiglernen von Gesetzen fiel mir schwer. Dabei konnte mir meine Frau mit einigen Lerntechniken weiterhelfen.

Seit wann überlegten Sie zu studieren?

Nach den Erfahrungen mit dem Elektrotechnik-Lehrgang dachte ich, dass das Lernen ja doch nicht so schwer ist, und mit dem Meisterbrief hatte ich auch die Hochschulzugangsberechtigung. Ich informierte mich, welche berufsbegleitenden Möglichkeiten es für ein Elektrotechnik-Studium gab. Auf mein Gehalt konnte ich nicht verzichten, weil meine Frau schon in Vollzeit studierte. Den passenden Studiengang fand ich an der Rheinischen Fachhochschule Köln. Die RFH bot auch ein Qualifizierungssemester für Studierende an, die kein Abitur hatten oder deren Schulzeit schon länger zurücklag. Der Kurs setzte sich aus 70 Prozent Mathematik und 30 Prozent Physik zusammen und sollte die Teilnehmer auf Abitur-Niveau bringen. Ich hatte gleich die Hoffnung, dass mir das helfen würde. Mir war ja bewusst, dass ich eigentlich Hauptschüler war, der über einen Umweg die Mittlere Reife erlangt hatte. Ohne Abitur zu studieren, war eine Herausforderung.

Konnten Sie Berufstätigkeit und Studium gut miteinander vereinbaren?

Während des Qualifizierungssemesters sind wir nach Troisdorf in der Nähe von Köln gezogen, zu meinem Job in Neuwied musste ich pendeln. Ich wechselte deshalb zu einem Unternehmen mit einem Standort in Köln. Das funktionierte dann gut. Ich gewöhnte mich schnell daran, abends und an Samstagen zur Hochschule zu fahren, und hatte auch gute Noten. Ohne das Qualifizierungssemester hätte ich das allerdings kaum geschafft. Mit einem Kommilitonen und einer Kommilitonin habe ich mich teilweise auch beim Besuch der Lehrveranstaltungen abgewechselt und dann darüber ausgetauscht. Mit Kommilitonen das Studium gemeinsam bewältigen zu können, war viel wert, ganz anders als zuvor in meinem Online-Lehrgang zum Industriemeister. Wir haben sogar alle drei das Studium ein Semester schneller als in der Regelstudienzeit geschafft. Abgeschlossen habe ich das Studium im vergangenen Jahr mit der Note 1,8.

Haben Ihnen im Studium Ihre praktischen Erfahrungen geholfen?

In dem berufsbegleitenden Studium halfen uns natürlich die Kenntnisse aus der Ausbildung. Der Kommilitone, mit dem ich zusammengelernt habe, und ich gehörten zu den wenigen, die kein Abitur hatten. Aber auch uns half die praktische Erfahrung. Außerdem musste ich aufgrund meiner Berufserfahrung nicht das Fachpraktikum machen, das zum Studiengang gehört.

Bei Ihrem Studium wurden Sie durch das Aufstiegsstipendium gefördert. Wie hatten Sie von dem Stipendium erfahren?

Meine Frau recherchierte nach Fördermöglichkeiten und entdeckte dabei auch das Aufstiegsstipendium. Sie erfüllte die Kriterien zwar nicht, meinte aber gleich, dass es zu meinem Profil passte. Ich sagte zuerst: Stipendium und ich – das passt doch nicht zusammen. Meine Frau überzeugte mich aber, mich zu bewerben, und so bekam ich nach den drei Bewerbungsstufen tatsächlich die Zusage.

Wie sehr hat das Stipendium Ihnen das Studium erleichtert?

Ich war total happy, weil wir für unsere beiden Studien schon sehr an die Ressourcen gehen mussten. Genauso wichtig war für mich die zusätzliche Motivation dranzubleiben, um das Stipendium weiter zu erhalten. Ich wollte auf jeden Fall vermeiden, schlechte Noten oder ein verzögertes Studium begründen zu müssen.

Konnten Sie beruflich schon vom Studium profitieren?

In dem Unternehmen, zu dem ich zu Beginn des Studiums gegangen war, sollte ich eigentlich eine Meister-Stelle bekommen und in einer neuen Filiale die Werkstattleitung übernehmen. Daraus ist aber nie etwas geworden. Deshalb wechselte ich nach zwei Jahren noch einmal den Arbeitgeber und konnte direkt eine Konstrukteursstelle übernehmen, obwohl ich noch gar kein Ingenieur war. Die Kombination aus Meisterbrief und Studium war das Ticket, um die Stelle zu bekommen. Mit der Aufgabe bin ich sehr glücklich und zufrieden.

Was sind Ihre weiteren beruflichen Pläne?

Ich möchte mich weiterentwickeln und zum Beispiel meine Englischkenntnisse verbessern. Während des Bachelor-Studiums habe ich in an der Volkshochschule das Level B1 geschafft. Jetzt nehme ich Privatunterricht, um das B2-Zertifikat zu bekommen, das für das Master-Studium in Elektrotechnik erforderlich ist. Das möchte ich in diesem Jahr ebenfalls an der RFH Köln beginnen.

Interview: Heinz Peter Krieger