„Pläne habe ich immer viele“

Um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, kam Tünde Ullrich mit 18 Jahren für ein Freiwilliges Soziales Jahr aus Ungarn nach Deutschland. Anschließend wollte sie studieren, absolvierte wegen Problemen bei der Anerkennung ihres Abiturs aber zunächst eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin. Nach einigen Umwegen und mit viel Hartnäckigkeit konnte sie schließlich – gefördert durch das Aufstiegsstipendium –Soziale Arbeit an der DHBW Stuttgart studieren. Heute arbeitet sie im Bereich „Begleitetes Wohnen in Familien“.


Frau Ullrich, Sie sind in Ungarn aufgewachsen. Mit wie vielen Jahren sind Sie nach Deutschland gekommen?

Da war ich 18. Mein Abitur habe ich noch in Ungarn gemacht und hatte in Budapest auch schon einen Studienplatz für das Fach Germanistik. Auf dem Gymnasium hatte ich Deutsch als Fach im Abitur. Über die Schule gab es die Möglichkeit, durch die Malteser für ein Freiwilliges Soziales Jahr nach Deutschland oder nach Frankreich vermittelt zu werden. Ich bewarb mich nach Deutschland, um mein Deutsch zu verbessern.

Wo haben Sie das Freiwillige Soziale Jahr absolviert?

Ich kam über die Initiative ‚Christen für Europa‘, die mit den Maltesern zusammenarbeitet, zur Diakonie Stetten in der Nähe von Stuttgart. Ich arbeitete in einer Wohngruppe für Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung. Ich hatte schnell ein gutes Netzwerk mit vielen anderen FSJlern aus verschiedenen Ländern. Ich war auch regelmäßig auf Seminaren in Dresden, wo die ‚Christen für Europa‘ ihren Sitz haben. So hatte ich bald die Idee, in Deutschland zu bleiben.

Sie haben dann eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin absolviert.

Das war eine längere Geschichte. Ich wollte studieren, nach dem Freiwilligen Sozialen Jahr aber zunächst meine deutschen Sprachkenntnisse weiter verbessern. Die Diakonie Stetten bot mir eine feste Stelle an, wieder in einer Wohngruppe, in der ich wie eine ungelernte Fachkraft bezahlt wurde. Das nahm ich gerne an, weil ich so auch Geld für mein Studium ansparen konnte. Als ich dort arbeitete, erfuhr ich aber, dass in Deutschland mein Abitur aus Ungarn nicht anerkannt, sondern nur wie die Mittlere Reife behandelt wurde und ich deshalb in Deutschland nicht studieren konnte. Der Grund war, dass ich in Ungarn nur ein Fach in der Oberstufe hatte. Das war ein schwerer Schlag für mich, weil ich meinen Studienplatz in Ungarn inzwischen verloren hatte. Ich hatte sogar schon einen Sprachkurs an der Universität Stuttgart absolviert, um für ein Studium das Sprachniveau C1 zu erwerben. Zu der Zeit eröffnete die Diakonie Stetten ein neues Haus mit Platz für 24 Klienten und bot mir dort eine Ausbildungsstelle zur Heilerziehungspflegerin an. So entschloss ich mich, zunächst die Ausbildung zu absolvieren.

Gefiel Ihnen die Ausbildung?

Die Ausbildung war toll, die Arbeit gefiel mir gut und war erfüllend. Im Nachhinein war es eine gute Entscheidung. Nach der Ausbildung wurde ich in Teilzeit übernommen. Die freie Zeit nutzte ich, um in Ungarn das Abitur in Geschichte als zweitem Fach nachzuholen. Ich hatte mich zuvor im Regierungspräsidium Stuttgart beraten lassen und dort erfahren, dass ich mit einem zweiten Fach im ungarischen Abitur in Deutschland würde studieren können. Ich kontaktierte meine frühere Geschichtslehrerin, lernte in Deutschland, reiste zweimal für die Prüfungen nach Ungarn und bestand das Abi. Damit hatte ich dann in Deutschland die fachgebundene Hochschulreife.

Wie haben Sie den Studiengang ausgewählt?

Drei Jahre nach dem Abschluss meiner Ausbildung – nach der Arbeit in der Wohngruppe, dem nachgeholten Abitur und meiner Heirat – dachte ich: Jetzt wird es Zeit. Ich begann mit der Suche nach einem Studium, das auf meiner Ausbildung aufbaute. So kam ich auf den Studiengang ‚Soziale Arbeit‘ und schaute mir an, welche Angebote es gab. Eine Freundin von mir studierte bereits Soziale Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Stuttgart. Ich tauschte mich mit ihr aus und bewarb mich bei möglichen Arbeitgebern, die mit der DHBW kooperierten, um eine Stelle. Ich hatte das Glück, dass an der Diakonie Stetten, also meiner bisherigen Arbeitgeberin, ein Platz in der Studienrichtung ‚Soziale Arbeit in Pflege und Rehabilitation‘ frei wurde, was auch am besten zu meiner bisherigen Tätigkeit passte. Für dieses Studium entschied ich mich dann.

Wie empfanden Sie den Wechsel ins Studium?

In das Studium habe ich schnell reingefunden, nur die wissenschaftliche Sprache und das wissenschaftliche Schreiben fand ich zunächst schwierig. Ich merkte aber, dass ich damit nur die gleichen Probleme hatte wie die Studierenden, die aus Deutschland kamen, und es ging bald besser. Ich war sehr anspruchsvoll mir selbst gegenüber und habe viel Zeit und Kraft in das Studium gesteckt. Viel Freizeit blieb da nicht.

Wie war das duale Studium organisiert?

Die Semester waren jeweils auf drei Monate an der Hochschule und drei Monate in der Praxis aufgeteilt. Ich blieb dabei nicht nur auf einer Stelle, wie bei manchen anderen Arbeitgebern, sondern durchlief in der Zeit verschiedene Bereiche und Abteilungen. Das fand ich sehr gut. Da ich durch die Ausbildung schon über die Grundlagen verfügte, konnte ich nach kurzer Einarbeitung auch direkt auf Projektstellen eingesetzt werden. An der Hochschule wurde mir außerdem ein Modul zum Thema Erziehung, Bildung und Sozialisation erlassen. Hier wurde die Note aus der Ausbildung übernommen.

Bei Ihrem Studium wurden Sie durch das Aufstiegsstipendium gefördert. Wie hatten Sie von dem Stipendium erfahren?

Das war noch vor meinem Studium. Eine andere Freundin, die studierte, erhielt bereits das Aufstiegsstipendium. Ich informierte mich über das Stipendium, bewarb mich und hatte schließlich mein Auswahlgespräch. In dem Gespräch herrschte eine tolle, offene Atmosphäre. Meine Gesprächspartner waren sehr interessiert an meinem Werdegang. Als ich die Zusage erhielt, war ich sehr froh, nicht nur wegen der finanziellen Unterstützung, sondern auch, weil ich das Stipendium als große Wertschätzung für meinen bisherigen Weg in Deutschland empfand.

Wie wichtig war das Stipendium für Ihr Studium?

Ich hätte auch ohne das Stipendium studiert, aber es hat mir das Studium sehr erleichtert. Im dualen Studium hatte ich wieder ein ähnliches Gehalt wie während der Ausbildung – eigentlich sogar weniger, weil die Wochenend- und Feiertagszuschläge wegfielen. Mithilfe des Aufstiegsstipendiums konnte ich zum Beispiel meine Studienmaterialien finanzieren und musste nicht meinen Mann damit belasten.

Ihr Studium haben Sie mit der Note 1,4 abgeschlossen. Konnten Sie beruflich schon davon profitieren?

Für die Bachelor-Arbeit konnte ich ein praxisnahes Thema wählen. Es ging um ‚Betreutes Wohnen in Familien‘. Bei diesem Modell sind Menschen mit geistiger Behinderung bei Gastfamilien untergebracht. Ich begleitete die Projektleitung, die für die fachliche Weiterentwicklung dieses Bereichs zuständig war. In der Bachelor-Arbeit habe ich mich mit den fachlichen Standards und möglichen Verbesserungen etwa bei der praktischen Arbeit oder auf der Organisationsebene beschäftigt. Ich bewarb mich in dieser Zeit auf eine Stelle im Bereich ‚Begleitetes Wohnen in Familien‘ im Landkreis Schwäbisch Hall. Dort arbeitete ich nach meinem Bachelor ein halbes Jahr in Teilzeit, weil der Standort recht weit von meinem Wohnort entfernt war. Inzwischen bin ich in Vollzeit auf einer entsprechenden Stelle in Stuttgart beschäftigt. Dort profitiere ich sehr von meinem Studium, weil es sich um eine klassische sozialpädagogische Position handelt. Das Gehalt ist auch entsprechend höher.

Was sind Ihre weiteren beruflichen Pläne?

Schon immer am Herzen lag mir die Begleitung von Auszubildenden in der Heilerziehungspflege. Ich könnte mir gut vorstellen, sie als Mentorin in der Praxis zu begleiten. Ich habe aber auch schon Anfragen für Unterricht und Seminare erhalten. Außerdem denke ich über eine Weiterbildung in systemischer Familienberatung nach. Dies wäre in meiner jetzigen Arbeit sehr hilfreich, und ich kann mir auch vorstellen, mich in dem Bereich selbstständig zu machen. Eine andere Möglichkeit wäre der Bereich der rechtlichen Betreuung. Das ist aber noch Zukunftsmusik. Pläne habe ich immer viele (lacht).

Interview: Heinz Peter Krieger