"Ein gutes Gefühl, sich ein Studium getraut zu haben"

Alena Polster kam mit zwölf Jahren aus Kasachstan nach Deutschland und stieg, ohne zusätzlichen Deutschkurs, direkt in die Realschule ein. Zielstrebig blieb sie auch im Berufsleben: Nach ihrer Ausbildung zur Industriekauffrau bildete sie sich zur Industriefachwirtin weiter und absolvierte erfolgreich ein internationales Wirtschaftsingenieur-Studium an der Hochschule Reutlingen.


Frau Polster, nach der Mittleren Reife haben Sie eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert. Was gefiel Ihnen an dem Beruf?

Ich bin ganz klassisch über das Berufsinformationszentrum der Arbeitsagentur darauf gekommen. Was ich über den Beruf las, fand ich spannend und anspruchsvoll. Ich versandte einige Bewerbungen und bekam schnell eine Ausbildungsstelle bei einem großen Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau. Dort konnte ich schon während der Ausbildung in vielen verschieden Bereichen arbeiten. Das Gute an dem Beruf als Industriekauffrau ist, dass man sich immer wieder neu orientieren und sich in andere spannende Aufgaben einarbeiten kann. Nach der Ausbildung wurde ich in den Logistikbereich des Unternehmens übernommen und blieb dort drei Jahre bis zur Aufnahme meines Vollzeitstudiums.

Geboren sind Sie in Kasachstan. Wie alt waren Sie, als Sie nach Deutschland kamen?

Ich kam mit zwölf Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland. Das war schon schwierig, gerade in der Pubertät und ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, war der Start in den Schulalltag nicht einfach. Es war auch ein kleiner Kampf mit den Behörden, um auf die Realschule kommen zu können. Ich sollte mich zunächst in der Hauptschule anmelden, ich blieb aber mit Erfolg hartnäckig. Auf der Realschule kam ich dann gut zurecht und belegte auch eine zweite Fremdsprache, um später eventuell aufs Gymnasium wechseln zu können. Ich entschied mich dann aber doch für die Ausbildung, weil ich bei meinem Realschulabschluss schon 18 Jahre war und auf eigenen Beinen stehen wollte.

Hatten Sie einen speziellen Deutschkurs?

Nein, Deutsch lernte ich einfach durch die Schule, indem ich versuchte, dem Unterricht zu folgen und die Aufgaben zu lösen. Es dauerte etwa zwei Jahre, bis ich auf einem guten Level war.

Nach Ihrer Ausbildung haben Sie eine Weiterbildung zur Geprüften Industriefachwirtin absolviert.

Ich wusste schon direkt nach der Ausbildung, dass ich hier nicht aufhören wollte und mich gerne weiterbilden würde. Ich wurde glücklicherweise nach dem guten Ausbildungsabschluss durch das Weiterbildungsstipendium gefördert. Die Weiterbildung zur Industriefachwirtin knüpfte gut an der Ausbildung an, und ich meldete mich zum Lehrgang an der IHK Ulm an.

Wann kam der Wunsch auf zu studieren?

Ich wollte mich ursprünglich noch zur Betriebswirtin (IHK) weiterqualifizieren. Durch die Weiterbildung zur Industriefachwirtin bekam ich aber auch die allgemeine Hochschulzulassung. Dadurch begann ich, mich für ein Studium zu interessieren, und entdeckte einen interessanten Studiengang an der Hochschule Reutlingen. Beruflich wollte ich mich auch verändern. So stand ich vor der Wahl, die Stelle zu wechseln oder zu studieren, und nutzte die Chance eines Studiums.

Für welchen Studiengang hatten Sie sich entschieden?

Im Beruf fand ich den Bereich Projektmanagement immer sehr interessant. Bei der Recherche stieß auf den Studiengang ‚International Project Engineering‘ an der Hochschule Reutlingen, ein Wirtschaftsingenieur-Studium mit dem Schwerpunkt Projektmanagement. Dass ich nicht nur Einblicke in die BWL, sondern auch in die technischen Fächer bekommen konnte, fand ich besonders spannend.

Wie war der Start ins Studium?

Die ersten beiden Semester waren sehr hart, obwohl ich aus dem Lernen ja nie rausgekommen war. Ich wusste nicht genau, was mich auf mich zukam, und musste mich auch im Alltag ganz neu orientieren. Vor allem die technischen Fächer waren sehr anspruchsvoll, weil mir das Vorwissen aus dem Abitur fehlte. In Mathematik und Physik spürte ich deutlich, dass ich hinterherhinkte und länger brauchte, um mir den Stoff anzueignen. Das Studium habe ich deshalb auch nicht in der Regelstudienzeit geschafft.

Wie konnten Sie den Rückstand aufholen?

Ich musste mich wirklich hinsetzen. Einen Vorkurs in Mathematik gab es nicht, was sicher hilfreich gewesen wäre, aber ich konnte an Tutorien teilnehmen. Vor allem hat mir geholfen, dass die Kommilitonen zusammenhielten und wir uns im Studium untereinander immer gut unterstützt haben. Mit der Zeit lebt man sich ein und versteht, wie eine Hochschule und das Studium funktionieren und worauf man achten muss. Egal wie schwer und stressig es teilweise war: Aufgeben war nie eine Option für mich. Das Aufstiegsstipendium bestärkte mich ebenfalls dranzubleiben.

Wie hatten Sie vom Aufstiegsstipendium erfahren?

Ich hatte zuvor ja das Weiterbildungsstipendium erhalten, das ebenfalls von der SBB koordiniert wird. Darüber erfuhr ich auch vom Aufstiegsstipendium und es passte genau auf meine Situation. Um die Bewerbung um das Aufstiegsstipendium und den Studienplatz kümmerte ich mich dann gleichzeitig. Die Zusage für das Stipendium erhielt ich kurz nach der Studienzusage.

Sie hätten also auf jeden Fall studiert.

Ja, die Entscheidung stand fest. Aber ich hätte mehr arbeiten müssen, vielleicht hätte mich auch meine Familie mehr unterstützen müssen. Es wäre auf jeden Fall viel schwieriger geworden, vor allem in den ersten Semestern. Das Stipendium hat mir geholfen, auf eigenen Beinen zu stehen, und ich konnte mich mehr auf das Studium konzentrieren.

Wie international war der Studiengang angelegt?

Die Hälfte der Vorlesungen wurde auf Englisch gehalten und es musste eine zweite Fremdsprache belegt werden. Außerdem gehörte ein halbjähriges Pflichtpraktikum im Ausland zum Studium. Das habe ich bei einem Industrieunternehmen in der französischen Schweiz absolviert. In dem Unternehmen bin ich anschließend noch als Werkstudentin geblieben, um ein Projekt abzuschließen. Gleichzeitig musste ich schon wieder für Prüfungen an der Hochschule in Reutlingen lernen, weil das Studium bereits weiterlief. Da war die Zeit immer sehr knapp, aber es war eine tolle Erfahrung.

Das Studium haben Sie mit dem Bachelor abgeschlossen. Wie ging es anschließend für Sie weiter?

Meine Bachelor-Arbeit konnte ich bei einem Unternehmen aus der Medizintechnik schreiben und bekam nach meinem Abschluss ein Jobangebot. Ich bin dort seit einem halben Jahr in der Auftragsbearbeitung tätig und kann bald in Optimierungsprojekte im Bereich Sales und Auftragsabwicklung einsteigen. Es ist ein spannender Bereich mit Aufstiegsmöglichkeiten. Ich kann mir auch vorstellen, künftig wieder stärker im technischen Bereich zu arbeiten. In der Medizintechnik passiert ja sehr viel.

Wie profitieren Sie im Beruf von Ihrem Studium?

Man lernt im Studium, systematisch zu denken sowie gut zu kommunizieren und zu präsentieren. Standpunkte vertreten zu können, hilft im Berufsalltag noch viel mehr als die fachlichen Kompetenzen, die natürlich ebenfalls wichtig sind. Das Studium war auf jeden Fall der richtige Schritt. Vielleicht wird später ein nebenberufliches Master-Studium noch ein Thema für mich.

Ihr Tipp für Berufstätige, die überlegen, ein Studium zu beginnen?

Wer merkt, dass er im Beruf nicht richtig weiterkommt, und gerne etwas anderes machen möchte, sollte es auf jeden Fall wagen. Man muss sich zwar darüber im Klaren sein, dass man während des Studiums weniger Zeit haben wird. Aber ein Studium ist machbar. Es ist nie zu spät, sich Wissen anzueignen. Und es ist ein gutes Gefühl, sich ein Studium getraut zu haben – zur Arbeit kann man immer noch zurückzukehren. Man hat ja heute sehr viele Möglichkeiten, seine Träume und Ziele zu verwirklichen.

Interview: Heinz Peter Krieger